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Vermitteln ohne zu überwältigen
Bund für Bildung: In Berlin und Brandenburg wird im Rahmenlehrplan des Faches Gesellschaftswissenschaften für die Jahrgangsstufen 5/6 explizit der Besuch einer Gedenkstätte im Rahmen des Themas „Deutschland zweigeteilt“ (RLP 2015, S. 30) empfohlen. Wie stehen Sie dazu?
Maik Wienecke: Ich sehe Gedenkstättenbesuche erst einmal als eine große Bereicherung für Schülerinnen und Schüler. Sie eröffnen Kindern einen direkten Zugang zur Geschichte und damit ein ganzheitliches Lernen: Die Realbegegnung mit Orten, an denen Menschen Unrecht wiederfahren ist, holt die Kinder aus dem gewohnten Lernumfeld heraus und lässt sie fokussierter auf das Thema blicken und eigene Fragen an die Geschichte der deutschen Teilung stellen.
Zugleich muss man bedenken, dass Kinder in der Altersgruppe der 10-13 Jährigen mit den emotional belastenden Themen eines ehemaligen Stasi-Gefängnisses oder einer Gedenkstätte für die Toten an der ehemaligen innerdeutschen Grenze konfrontiert werden. Das stellt eine große Herausforderung für sie dar. Eine zentrale Frage ist also: Wie können Lehrkräfte sicherstellen, dass der Gedenkstättenbesuch einen Mehrwert im Rahmen ihres Unterrichts darstellt und die haptischen, akustischen und visuellen Eindrücke für Ihre Schülerinnen und Schüler unbedenklich und sinnvoll ausgewählt sind.
Inhalte und Quellen gut auswählen
Sie arbeiten an der Universität Potsdam in der Lehrkräfteausbildung für Lehramtsstudierende im Fach Gesellschaftswissenschaften. Was empfehlen Sie angehenden Lehrpersonen?
Damit der Besuch zu einem Lernerfolg führt und die Gefahr einer möglichen Überwältigung vermieden werden kann, sollten in erster Linie folgende Aspekte Berücksichtigung finden:
- eine frühzeitige Abstimmung mit dem außerschulischen Lernort
- eine inhaltliche Vor- und Nachbereitung des Besuchs im Unterricht und
- vor Ort die Konzentration auf ausgewählte und an die Lerngruppe angepasste Biographien und Räumlichkeiten
Mit klarem Fahrplan Unrecht erkennbar machen
Auf dieser Basis können Sie im Unterricht den Besuch konkret vorbereiten, beispielsweise über eine Aufgabe der Raumanalyse, können die Kinder bereits an den Ort herangeführt werden, indem sie sich bspw. mit folgenden Fragen auseinandersetzen: Weshalb wurde genau dieser Ort für die Errichtung eines Gefängnisses (o.Ä.) ausgewählt? Welche Objekte lassen sich finden, die auf die Funktion dieses Ortes hinweisen? Woher sind den Kindern diese Objekte bekannt?
Falls es keine vorbereiteten Materialien der Gedenkstätte gibt, empfehle ich v.a. die Arbeit mit zuvor ausgewählten Biographien ehemaliger Insassen. Anhand von Lebensläufen von Menschen, die so auch heute im Lebensumfeld der Kinder leben könnten (Lehrkräfte, Nachbarn, Verwandte), werden die Kinder leichter einen Zugang zu Widersprüchen und einer problemorientierten Auseinandersetzung mit deren Handlungen und den damaligen Begleitumständen finden.
Regen Sie Ihre Klasse zu Vergleichen eigener Taten und Meinungen mit den biographischen Beispielen an und die Kinder werden schnell die unterschiedlichen Konsequenzen erkennen, welche die Unternehmungen im Rechtssystem der DDR und im heutigen ausgelöst hätten. Es gilt, die Schicksale ehemaliger Gefangener vom Abstrakten in die Nähe möglicher individueller Erfahrungen und Anschauungen der Kinder zu bringen.
Vor Ort sollten die Kinder mindestens in 3er-Gruppen den Ort anhand von Fragen oder Arbeitsmaterialien erkunden, die durch die Gedenkstätte selbst oder von der Lehrkraft zur Verfügung gestellt werden. Die Arbeit in der Gruppe erlaubt es den Kindern, sich über ihre Eindrücke auszutauschen und dabei gleichzeitig eine Distanz gegenüber dem Ort zu bewahren und so einer möglichen Überwältigung entgegenzuwirken.
Je nach Klassengröße werden 3-5 Stationen eingerichtet, an denen unterschiedliche methodische Zugänge beispielsweise zum Thema der politische Haft möglich sind. Die Aufgabenstellungen greifen den o.g. Lebensweltbezug auf. So könnten im Rahmen einer Spurensuche einzelne Gegenstände in den Fokus der Betrachtungen rücken, welche die Kinder aus anderen Zusammenhängen kennen, und be- bzw. hinterfragt werden (z.B. Fotolabor, Wäscherei, Sprechzimmer). Biographien, Videoaufzeichnungen oder Tagebücher von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen können als Einstieg in die Erforschung der Geschichte des Ortes und für die Betrachtung politischer Kontroversen zur Gegenwart, genutzt werden.
Andere Stationen können zeichnerische Zugänge (z.B. Einrichtung und Schnitt des Kinderzimmers im Vergleich zur Ausstattung und Größe der Zelle) oder theaterpädagogische Ansätze (Verhaltensregeln in der Haft – Was war erlaubt, was nicht?) aufgreifen.
Materialien für Kinder
- Die Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße bietet ein Kinderheft zur Ausstellung für Familien. Die Kinder müssen Lesen können.
- Das Haus der Geschichte bietet im Tränenpalast, Berlin, Angebote im Primarbereich an, online zu finden im Bereich für „Schüler und Lehrer“ -> Bildungsbereich auswählen: Primarbereich. Altersgerecht ist beispielsweise die Schwerpunktsetzung auf Westpakete. Hier gibt es einen Workshop: „Post von „drüben“ – Das Westpaket“.
Downloads
- Haus der Geschichte: Material "Spurensucherausweis" zum Workshop "Post von "drüben" - Das Westpaket"https://geschichtsbewusst.de/wp-content/uploads/2022/04/Selbstaendig_erkunden_TP_Spurensucherausweis_gruppe_2020.pdf
Weiterführende Links
- Andreasstraße für Kinderhttps://www.stiftung-ettersberg.de/andreasstrasse/extras/
- Tränenpalast Angebote für Schüler und Lehrer - mit Angeboten für den Primarbereichhttps://www.hdg.de/traenenpalast/lernen/schueler-und-lehrer