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Frau Burkhardt-Dütsch, Sie unterrichten seit vielen Jahren Geschichte in der Sekundarstufe. Worin besteht aus Ihrer Perspektive die zentrale Herausforderung für die Vermittlung der deutschen Teilungsgeschichte im Unterricht?
Sindy Burkhardt-Dütsch: Für Jugendliche, deren Lebenswelt von Liberalismus und frei ausgelebten demokratischen Grundrechten geprägt ist, bleibt das Verständnis für die augenscheinlichen Disparitäten zwischen Ost und West nur in Ansätzen nachvollziehbar. Die deutsch-deutsche Umbruchsgeschichte scheint für sie, die sogenannte „Generation Z“, genauso lang her zu sein wie andere historisch prägende Ereignisse auf der Zeitleiste des Lebens vergangener Generationen. Wie schaffen wir es als Lehrende, einer jungen Generation die eigene deutsche Geschichte so näher zu bringen, dass sie verinnerlichen, dass dieses Thema ganz konkret etwas mit ihnen zu tun hat und dass es in ihrer Verantwortung liegt, sowohl geschichtsbewusst als auch gleichermaßen sensibel mit der „deutschen Teilung“ umzugehen?
Und wie gehen Sie diese Herausforderung an?
Eine wichtige Aufgabe der Geschichtsvermittlung sehe ich darin, das selbständige Entdecken von Lerninhalten zu ermöglichen: Der Lernende muss selbst handelnd tätig werden, um seine ganz eigene Repräsentation der Welt, in der er lebt, zu erschaffen. Hieraus eröffnet sich eine Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten in der Unterrichtspraxis fernab von herkömmlichen Sozialformen. Entdeckendes Lernen lässt sich hervorragend mit Regionalgeschichte, Oral History sowie dem handlungs- und produktionsorientierten Geschichtsunterricht verbinden. 45-minütiger Unterricht ist hierzu jedoch kaum geeignet; Motivation und viel kreatives Potential hingegen steckt meiner Erfahrung nach in Arbeitsgemeinschaften und Geschichtswettbewerben.
Erkennen, dass Geschichte überall und zu allen Zeiten stattfindet
Ihre Schülerinnen und Schüler an der Emil-Petri-Schule in Arnstadt haben an zahlreichen Wettbewerben teilgenommen. Wo lagen ihrer Erfahrung nach die Mehrwerte?
Den Schülerinnen und Schülern ist oft gar nicht bewusst, wie viel Historie und eigene Identität in der Heimatstadt verborgen liegt. Ungeahntes Potenzial kann zutage gefördert und freigesetzt werden. Die Arbeit mit meiner ersten Geschichtsprojektgruppe, die sich mit der Friedlichen Revolution vom Herbst 1989 in ihrer thüringischen Heimatstadt Arnstadt auseinandersetzte, führte mir deutlich vor Augen, wie sehr entdeckendes Lernen die intrinsische Motivation der Jugendlichen fördert: Wenn Schülerinnen und Schüler sich selbst auf Spurensuche begeben, Geschichte hautnah erleben, konkrete Perspektivwechsel vornehmen, das Klassenzimmer gegen außerschulische Lernorte eintauschen und damit selbst zu Historikerinnen und Historikern werden, dann wachsen sie über sich hinaus, gelangen an ihre Grenzen, lernen sich und ihre Heimat neu kennen. Es wächst also zusammen, was zusammengehört: Geschichte und Individualität. Die Einsicht, dass Geschichte so individuell und subjektiv ist, kann kein Lehrbuch so nachhaltig vermitteln wie das eigenständige Entdecken von Geschichte.
Und wie lässt sich dies konkret umsetzen?
Eine konkrete Möglichkeit der Umsetzung bildet beispielsweise das Errichten von Geschichts-AGs. Um einen erheblichen Mehrwert und nachhaltiges Geschichtsbewusstsein bei den Schülerinnen und Schülern zu erreichen, ist es m.E. zwingend notwendig, die gewohnte Stundentafel zu überdenken. Das Ganztagsschulkonzept hat bereits in vielen Institutionen Einzug gehalten und erfreut sich immer größerer Beliebtheit, um den schulischen Anforderungen gerecht zu werden. Eine ganzheitliche sowohl fachspezifische als auch pädagogische Betreuung von Kindern und Jugendlichen sollte dabei im Fokus stehen. AGs bieten zugleich mehrere Vorteile: Schülerinnen und Schüler jeden Alters und jeder Klassenstufe nehmen gemeinsam an Geschichtsprojekten teil. Sie unterstützen sich gegenseitig, erkunden gemeinsam Geschichte ganz unabhängig vom Lehrplan und setzen sich interessengeleitet mit historischen Fragestellungen auseinander. Mundpropaganda und das Rühren der Werbetrommel für derartige AGs kann auch jene Jugendliche ansprechen, die bis dato das Fach Geschichte im Unterricht noch nicht für sich entdeckt haben. An der Emil-Petri-Schule in Arnstadt haben wir diese Geschichts-AGs mit der regelmäßigen Teilnahme an Geschichtswettbewerben verknüpft. Auf diese Weise erfahren die Schülerinnen und Schüler zusätzlich eine Wertschätzung ihrer Arbeit und der Ehrgeiz ist geweckt. Die zahlreichen Auszeichnungen sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene unterstreichen das Engagement der Schülerinnen und Schüler und zeigen einmal mehr, wie wichtig es ist, Bildungsarbeit weit über die Stundentafel hinaus zu leisten. Meine Erfahrung daraus ist, dass sich ein langfristiger Lernerfolg nur einstellen kann, wenn wir Lehrende selbst mit gutem Beispiel vorangehen und die Schülerinnen und Schüler dazu ermutigen, über den Tellerrand hinauszuschauen. Die junge Generation kann nur Folgendes verinnerlichen, wenn wir Geschichte lebendig erhalten und greifbar machen: Wir alle tragen Verantwortung, denn „wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten.“ (H. Kohl)
Praxisbeispiele bilden die Beiträge zu folgenden Geschichtswettbewerben:
- Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten
- Bundeswettbewerb Umbruchszeiten
Downloads
- Zum Wettbewerb "Demokratisch Handeln": Projektmappe "Friedliche Revolution 1989 in Arnstadt"https://geschichtsbewusst.de/wp-content/uploads/2022/04/Projektmappe_Friedliche-Revolution-1989-in-Arnstadt.pdf
- Zum Wettbewerb "Umbruchzeiten": Projektmappe "In einem Land vor unserer Zeit"https://geschichtsbewusst.de/wp-content/uploads/2022/04/ID_1111_In-einem-Land-vor-unserer-Zeit-.pdf
Weiterführende Links
- Information zum Konstruktivismushttp://www.lernpsychologie.net/lerntheorien/konstruktivismus
- Wettbewerb Umbruchzeitenhttps://umbruchszeiten.de/
- Geschichtswettbewerb des Bundespräsidentenhttps://www.koerber-stiftung.de/geschichtswettbewerb